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Lost Railways Duisburg: Die Verbindungskurve am alten Steinbruch

Geoff Marschalls YouTube-Serie „London’s Lost Railways“ hat mich vor einem Jahr dazu gebracht, mich in die faszinierende Geschichte der Eisenbahn auf Duisburger Stadtgebiet einzulesen und zu recherchieren, welche Strecken hier im Laufe der Zeit stillgelegt wurden. Und obwohl insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland viele Strecken aufgegeben wurden, sind auf Duisburger Stadtgebiet erstaunlich wenig Streckenkilometer verloren gegangen. In unregelmäßigen Abständen nehme ich euch mit auf die Lost Railways in Duisburg.

Vorab müssen wir zum besseren Verständnis, wieso bestimmte Strecken existieren und später eventuell wieder aufgegeben wurden, zwei wichtige Voraussetzungen klären.

Als Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Eisenbahnstrecken hier in der Region gebaut wurden, beschränkte sich das Duisburger Stadtgebiet noch auf das Gebiet rund um die heutige Innenstadt. Die nördlichen, westlichen und südlichen Stadtteile waren damals noch eigenständige Orte oder Dörfer, die erst viel später eingemeindet wurden. Das erklärt die aus heutiger Sicht vielfach fehlenden Eisenbahnverbindungen innerhalb des Duisburger Stadtgebiets. Will man beispielsweise vom Hauptbahnhof per Zug nach Norden, müsste man immer über Oberhausen fahren.

Weiterhin war der Bau, Unterhalt und Betrieb von Eisenbahnstrecken und Zugverbindungen anfangs allein durch private Unternehmen organisiert. Auf dem heutigen Duisburger Stadtgebiet buhlten vier verschiedene Eisenbahngesellschaften um die Gunst der Kunden. Das hatte vielfach redundante Infrastruktur zur Folge. So gab es anfangs drei verschiedene Bahnhöfe nebeneinander in der Stadtmitte, Strecken wurden teils parallel zueinander gebaut.

Im ersten Teil der Serie geht es um die Verbindungskurve am alten Steinbruch, die einst Teil einer Hauptstrecke war, die von Mülheim-Speldorf, über Duisburg-Wedau, Ratingen, den Düsseldorfer Osten, Hilden, den Leverkusener und Kölner Osten bis nach Troisdorf verlief. Gebaut wurde die Strecke durch die Rheinische Eisenbahn (RhE), die als letztes Unternehmen das Duisburger Stadtgebiet erreichte. 1866 eröffnete sie zunächst eine Strecke von Krefeld über Rheinhausen bis zum Rhein. Hier wurde ein Trajekt (eine Eisenbahnfähre) eingerichtet, die die Passagiere und Güterwagen auf die andere Rheinseite nach Hochfeld übersetzte. Die Strecke verlief dann am südlichen Rand der damaligen Stadt Duisburg durch den Stadtwald weiter nach Speldorf und schließlich nach Mülheim. Von hier verlief die Strecke parallel zur bereits bestehenden Strecke der Bergisch-Märkischen-Eisenbahngesellschaft (BME) quer durch das Ruhrgebiet bis nach Dortmund.

Übersichtskarte über die Eisenbahnstrecken südlich von Duisburg-Neudorf. Die Fotopunkte, auf die in den folgenden Bildunterschriften verwiesen wird, sind durch gelbe Dreiecke markiert Enthält Kartenmaterial von OpenStreetMap.

Der Personentransport war für die RhE auf der Ruhrgebietsstrecke nie allzu lukrativ, da man im Gegensatz zur BME die Bahnhöfe eher abseits der Stadtzentren errichten musste. Daher forcierte man den Güterverkehr umso mehr, indem man Zechen und Industriebetrieben kostenlose Gleisanschlüsse spendierte und sehr günstige Tarife bot. Um die rechte Rheinstrecke von Köln nach Wiesbaden an die Ruhrgebietsstrecke der RhE anzuschließen, begannen im Anschluss die Arbeiten an besagter Verbindungslinie zwischen Mülheim-Speldorf und Troisdorf, die 1874 eröffnet wurde.

[1] Blick vom Bahnübergang Katzenbruch in Richtung Mülheim-Speldorf …

Die neue Strecke zweigte etwa in Höhe der heutigen Stadtgrenze zwischen Mülheim und Duisburg ab, wo man die Blockstelle Katzenbruch einrichtete. Heute befindet sich hier nur noch ein einzelnes Gleis und auch der Bahnübergang am Katzenbruch wurde seitdem neu asphaltiert. Die breite Waldschneise zeugt aber noch sehr eindrucksvoll davon, dass hier einst 3 bis 4 Gleise parallel entlang führten.

[1] … und Richtung Duisburg.

Nur kurz hinter dem Bahnübergang findet man auf der südlichen Seite in einem sumpfigen Gebiet eine langgezogene Betonrampe, die wie ein Bahnsteig oder eine Laderampe wirkt. Einen Bahnhof oder Haltepunkt gab es hier meines Wissens aber zu keiner Zeit.

[2] Bahnsteig oder Laderampe?
[2] Auf beiden Seiten befindet sich eine abgeschrägte Kante

Noch mysteriöser ist eine doppelte Reihe niedriger Betonpfeiler, die für ein Stück durch den Wald und das sumpfige Gebiet führen. Man könnte annehmen, dass sie vielleicht einst eine Brücke getragen haben, aber sie stehen abseits der Eisenbahntrasse und führen ziellos in den Wald hinein.

[2] Betonpfeiler, die einfach nur so herumstehen
[2] Panoramaaufnahme aller Betonstrukturen

Kurz darauf trennen sich die Trassen nach Krefeld und Köln. An der Überführung über den Hombergweg kann man noch deutlich erkennen, dass die Strecke ursprünglich zweigleisig war. Nachdem die preußische Staatsbahn Ende des 19. Jahrhunderts sämtliche privaten Eisenbahnunternehmen in der Region übernahm, wurden die einstigen Strecken der RhE vor allem für den Güterverkehr genutzt, um die zentraler gelegenden Strecken für den Personenverkehr zu entlasten. Als dann Ende des 20. Jahrhunderts die Montanindustrie des Ruhrgebiets niederging, verschwand auch die Bedeutung dieser Eisenbahnstrecken. Der spärliche Personenverkehr zwischen Mülheim und Mülheim-Speldorf wurde Mitte 1970 aufgegeben; der zwischen Mülheim-Speldorf und Duisburg-Wedau über diese Verbindungskurve Ende 1971. 2002 wurde der Streckenabschnitt zwischen Mülheim und Mülheim-Speldorf über die Ruhr endgültig stillgelegt, wodurch die einstige Hauptstrecke zu einem reinen Anschlussgleis für das Industriegebiet rund um den Mülheimer Hafen degradierte.

[3] Die Überführung über den Hombergweg ist noch für die zweigleisige Hauptstrecke gebaut worden.

Den Umstand, zwei Verbindungen zu diesem Anschlussgleis zu unterhalten, hielt man in der Folge wohl für unnötigen Luxus, zumal der Wedauer Güterbahnhof ebenfalls vor dem Aus stand. 2006 wurden der Wedauer Güterbahnhof und diese Verbindungskurve daher stillgelegt. Während der Fahrdraht abgebaut wurde, liegt das letzte Gleis noch immer an Ort und Stelle und wird allmählich von Bäumen und Büschen überwachsen.

[4] Die Vegetation erobert sich die Trasse zurück.

Kurz darauf überquert die Strecke die Autobahn A3. Als diese Ende der 1990er Jahre auf 6 Spuren erweitert wurde, musste an dieser Stelle eine komplett neue Eisenbahnbrücke gebaut werden. Zwar ist diese nur noch eingleisig ausgeführt, da die Verkehrbedeutung der Verbindungskurve schon zu dieser Zeit nur noch marginal war, doch wenn man bedenkt, dass die Strecke nicht einmal 10 Jahre später sowieso stillgelegt wird, hätte man sich das Geld auch sparen können. Jetzt steht die hübsche Brücke einfach nur so da rum.

[5] Eisenbahnbrücke über die A3: die Masten stehen noch, der Fahrdraht wurde abgebaut.

Schlussendlich überquert die Eisenbahnstrecke die Koloniestraße. Diese Brücke ist noch erkennbar für die zweigleisige Hauptstrecke gebaut worden, wobei später allerdings nur noch der vordere Brückenteil genutzt wurde. Auch diese Brücke steht jetzt einfach nur noch so da rum.

[6] Die Brücke über die Koloniestraße wurde offenbar von MSV-Fans „verschönert“.

Quellen

Lost Places: Der Schlackeberg an der Regattabahn

Die Regattabahn ist auch über die Grenzen Duisburgs hinaus bekannt. Weniger bekannt und beinahe schon vergessen ist ein länglicher, namenloser Hügel, der sich zwischen Regattabahn und dem Barabarasee im Nordosten erstreckt. Als Ruhrgebietskind weiß man, dass Hügel hier selten natürlichen Ursprungs sind. Dieser hat eine interessante Geschichte zu erzählen.

Der namenlose Hügel zwischen Regattabahn und Barbarasee in gelb hervorgehoben – Kartenmaterial von OpenStreetMap

Die Geschichte beginnt im Jahr 1873, als der Industrielle Alfred Krupp ein großes Gelände am südlichen Rand des damaligen Duisburger Stadtgebiets erwirbt. Da sein Unternehmen boomt und das Werksgelände in Essen keinen Platz für Expansion mehr bietet, möchte er sich frühzeitig weitere lukrative Standorte im Ruhrgebiet sichern. Das Gelände ist deshalb so interessant, da es im Westen, Norden und Osten von verschiedenen Eisenbahnstrecken flankiert wird. Bedeutung bekommt das Gelände für die Firma aber erst nach seinem Tod, als sein Sohn Friedrich Krupp ein Hüttenwerk in Rheinhausen (damals noch eigenständige Stadt) unmittelbar am Rhein errichten lässt. Die in den Hochöfen anfallende Schlacke wird auf Eisenbahnwaggons verladen, über den Rhein transportiert und hier abgeladen. Gleichzeitig wird ringsherum Kies ausgebaggert, der auch zur Verfüllung der Schlacke dient.

Zwischen der Vegetation schaut vereinzelt die Schlacke heraus

Mit Beginn des ersten Weltkrieges 1914 geht die Produktion im Hüttenwerk aufgrund mangelnder Rohstoffe jedoch stark zurück. Nach Kriegsende verbieten dann die belgischen Besatzer den Transport von Gütern über den Rhein, weshalb der Schlackeberg nicht mehr weiter anwächst. Damit ist das Gebiet südlich von Duisburg ohne Nutzen für Krupp und so überlässt er ab 1919 das Grundstück der Stadt für eine symbolische Miete, damit diese dort einen Sportpark zur Gesunderhaltung und Ertüchtigung der Bevölkerung errichten kann. Die drei durch die Kiesausbaggerungen entstandenen Seen werden nach seiner Mutter Magarete und seinen beiden Schwestern Barbara und Berta benannt. Dazwischen wird mit dem Bau der Regattabahn begonnen.

Der Schlackeberg zwischen der späteren Regattabahn und dem Barabarasee wird mit Erde abgedeckt und begrünt, bevor er im zweiten Weltkrieg eine neue Aufgabe erhält. Die Wehrmacht lässt hier zahlreiche Terrassen, Gräben und Bunkeranlagen für Flakgeschütze errichten, die den Duisburger Luftraum vor den allierten Luftangriffen schützen sollen. Immer wieder berichten Menschen, dass sie auch heute noch alte Munitionsreste rund um den Schlackeberg finden.

Alte Mauer am östlichen Hang des Schlackebergs

Von den eigentlichen Flakstellungen ist nicht mehr viel erhalten. Auf der Ostseite findet man noch drei Mauern und eine Terrasse.

Terrasse am östlichen Hang mit verrosteten Geländern

Am südöstlichen Ende des Schlackebergs findet man die einzige komplett erhaltene Flakstellung, die im Inneren aber aus Sicherheitsgründen mit Erde verfüllt wurde.

Flakstellung am südöstlichen Ende des Schlackebergs

Auf einer Seite führt eine kurze, ummauerte Treppe hinauf auf die durch Verfüllung entstandene Plattform, die offenbar später dort angebaut wurde. Welchen Nutzen sie einst gehabt haben mag, konnte ich bislang nicht herausfinden.

Zugangstreppe zur verfüllten Flakstellung

Rund um das Plateau des Schlackebergs führt heute ein Weg, der im Süden über eine Treppe oder einen langsam ansteigenen Weg auf der Ostseite erreicht werden kann; im Norden führt ein asphaltierter Weg hinauf auf das Plateau. Innerhalb des Rundwegs befinden sich hauptsächlich wenig gepflegte Wiesenstücke, die regelmäßig durch kleinere Baumgruppen unterbrochen werden.

Eine der vielen Wiesenstücke auf dem Schlackeberg

Die Hänge sind dagegen rundherum dicht durch Bäume und hohe Büsche bewachsen, sodass es leider keine wirklich interessanten Aussichtspunkte gibt. Ich werde mal schauen, wie es im Winter aussieht, wenn das Laub fehlt.

Wenig Aussicht vom Schlackeberg

Ich kann mich erinnern, dass in meiner Kindheit die Wiesen auf dem Schlackeberg häufig von Hundebesitzern angesteuert wurden. Damals wurde der Rasen aber noch regelmäßig geschnitten. Heute trifft man selbst bei schönstem Wetter nur wenige Menschen, die sich auf den Berg hinauf verirren. Die meisten folgen dem Rundweg um die Regattabahn ohne den Berg näher zur Kenntnis zu nehmen.

Quellen:

Still the Most Mysterious Song on the Internet?

Anfang der 1980er Jahre sitzt der junge Darius aus Wilhelmshaven vor seinem Kassettendeck und nimmt Songs aus dem Radio auf. Aus den interessantesten Songs schneidet er sich eigene Mixtapes zurecht, beschriftet und archiviert sie säuberlich. Während andere ihre Kassetten im Laufe der Zeit zugunsten von CD’s entsorgen, hat Darius seine Mixtapes auch 20 Jahre später noch. Im Jahr 2004 beschließt er, sämtliche Kassetten zu digitalisieren und die Songs auf seinem Computer zu speichern. Seine Schwester Lydia schenkt ihm damals einen Webspace, welchen er dazu nutzt, seine Playlists der Welt zu präsentieren. Dabei fällt ihm auf, dass die Informationen zu einigen Songs lückenhaft sind. Teilweise fehlen Interpret oder Titel des Liedes.

Darius und Lydia beginnen gemeinsam die Lücken durch eigene Recherchen und mithilfe der Unterstützung durch Radio- und Musikforen zu schließen. Im Jahr 2007 postet Lydia in diversen Foren eine Anfrage zu einem Song von Darius Mixtape Nr. 4. Darius hatte damals als Interpret nur ein Fragezeichen und als Titel „Blind the wind“ notiert. Dass der Song wirklich so heißt, darf allerdings bezweifelt werden. Vielmehr dürften es die ersten Wortfetzen gewesen sein, die Darius im Song meinte verstehen zu können. Darius selbst vermutet, dass er den Song im Jahr 1984 aufgenommen hat, was mit dem Erscheinungsjahr der übrigen Songs auf dem Mixtape korreliert. Zudem meint er, sich erinnern zu können, den Song von der Radiosendung „Musik für junge Leute“ des Norddeutschen Rundfunks aufgezeichnet zu haben, die er damals sehr gerne verfolgte. Die Sendung lief von 1982 bis 1984 und wurde von Paul Baskerville, einem in Deutschland lebenen, britischen Radiomoderator, moderiert. Baskerville nutzte die Sendung regelmäßig, um auch unbekanntere Bands zu präsentieren; vor allem aus seiner ehemaligen Heimat.

Foto der Playlist von Darius Mixtape Nr. 4 – Aufgenommen vermutlich von Lydia

Lydia lädt auch einen gut 60-sekündigen Ausschnitt des Songs hoch. Genretechnisch lässt sich der Song dem New Wave zuordnen, der unter Jugendlichen Anfang der 80er populär war. Doch der Song ist so schlecht abgemischt, dass der englischsprachige Liedtext nahezu unverständlich ist. Konnten sich Lydia und Darius bisher auf die Expertise der Foren verlassen, herrscht diesmal allerdings nur allgemeines Schulterzucken. Im Jahr 2011 lädt der Nutzer redoalfo Lydias Songausschnitt bei YouTube unter dem Titel Unknown Song – Cancion Desconocida – Track Id hoch, was dort allerdings wenig Beachtung findet.

Im April 2019 stolpert der junge Brasilianer Gabriel über die früheren Versuche, den Ursprung des Songs zu finden, und beschließt, Darius und Lydias Recherchen fortzuführen. Nach und nach bindet er weitere Online-Communitys ein, was dem Song stetig zunehmende Aufmerksamkeit verschafft, aber trotzdem nicht hilft, der Lösung näher zu kommen. Das bringt dem Song bald den Spitznamen „The Most Mysterious Song on the Internet“ ein. Im Juli 2019 erhält Gabriel über Umwegen eine Kopie des vollständigen Songs. Später stellt sich heraus, dass Lydia damals auf private Anfragen teilweise auch den vollständigen Song weitergegeben hat. Doch auch die Komplettversion bringt kein Licht ins Dunkel.

Im August 2019 äußert sich Paul Baskerville im Rahmen seiner Sendung (Mitschnitt bei YouTube) beim Radiosender radio eins zu dem Song, nachdem er von diversen Communitys kontaktiert wurde, ob er nicht etwas über den Song wisse, wenn er damals doch vermeintlich in seiner Radiosendung lief. Zunächst zerstreut er die Hoffnung, dass es nach so langer Zeit noch Playlists seiner damaligen Radiosendung gäbe. Er selbst könne sich auch nicht erinnern, den Song jemals zuvor gehört zu haben, geschweige denn in seiner Sendung gespielt zu haben. Er könne höchstens noch seine Schallplattensammlung durchgehen, aber wolle das nicht vor seinem Ruhestand in Angriff nehmen. Er nutzt die Sendung jedoch, um den Song noch einmal übers Radio zu spielen, und fordert seine Zuhörer auf, sich zu melden, sollte jemand etwas über diesen Song wissen. Auch hieraus ergeben sich letztlich keine neuen Erkenntnisse.

Durch die Radiosendung werden Darius und Lydia jedoch darauf aufmerksam, dass ihre 2007 begonne Recherche zu dem Song wieder in vollem Gange ist, und sie schließen sich den Online-Communitys in ihren Bemühungen, den Ursprung des Songs zu finden, an. In den folgenden Monaten nimmt die mediale Berichterstattung über den mysteriösen Song deutlich zu. Das macht die Recherchen jedoch zunehmend mühsam, da nun immer mehr Leute von sich behaupten, Urheber des Songs zu sein. Viele Behauptungen lassen sich durch die Detektivarbeit der Communitys alsbald widerlegen, in anderen Fällen wird ein Schwebezustand erreicht, bei dem die Behauptungen weder belegt noch widerlegt werden können. Ende 2019 ebbt der mediale Hype wieder ab.

Am 24. März 2021 veröffentlicht die österreichische Band 1zu1 eine deutschsprachige Cover-Version des Songs auf YouTube mit dem Titel „Demystifying the Most Mysterious Song On The Internet: 1zu1 – Wie der Wind (Like The Wind)“. Im Begleittext erklärt die Band selbstsicher, dass der Ursprung des Liedes nun geklärt sei. Es sei 1983 in Wien von Ronnie Rocket (bürgerlicher Name Ronald Iraschek) und Christian Brandl parallel in englischer und deutscher Version unter dem Titel „Like the Wind“ bzw. „Wie der Wind“ geschrieben worden. Bei der späteren Aufnahme habe Christian Brandl die Gitarre und den Bass gespielt, sowie die Vocals eingesungen, während Ronnie Rocket am Schlagzeug saß.

Zwei Tage später erscheint bei Plattentests.de ein Beitrag des Seitenbetreibers Armin Linder, der die Hintergründe dieser Behauptungen einordnet. Er schreibt, er sei durch den medialen Hype ab Mitte 2019 motiviert worden, eigene Recherchen zur Herkunft des Songs anzustellen. Dabei sei er schließlich der Spur nachgegangen, dass es sich bei dem Sänger um Christian Brandl handeln könnte, den er vor allem durch sein Mitwirken in der österreichischen Band Chuzpe kannte. Christian Brandl verstarb allerdings bereits 1987 an den Folgen seiner Drogensucht. Er kontaktierte Menschen, die Brandl gut kannten, und befragte sie, ob es sich um seine Stimme handeln könne. Die Rückmeldungen hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können: während einige glaubten, dass es sich um Brandls Stimme handle, waren andere wenig überzeugt. Insbesondere sein früherer Chuzpe-Band-Kollege Robert Wolf sagte: „Ich schließe Christian nach wie vor aus – Stimme zu tief und kräftig“. Linder kontaktierte das Wiener Tonstudio, in dem Brandl den Song aufgenommen haben könnte, allerdings war auch dessen Besitzer Fred Jakesch mittlerweile verstorben und die Nachfolger konnten kein Archiv aus der damaligen Zeit ausfindig machen.

Eine heiße Spur ergab sich, als Linder Ronald Iraschek kontaktierte, der zusammen mit Brandl Anfang der 80er in der Band Underground Corpses spielte. Zunächst konnte dieser mit dem Song auch nichts anfangen; später erinnerte er sich dann jedoch überraschend daran, den Song zusammen mit Brandl geschrieben zu haben. Er habe dies nur wieder vergessen, da es ja schließlich die 80er waren. Seiner Geschichte zufolge, schickte er Brandl 1983 eine neue Gitarre als Weihnachtsgeschenk, da er sich immer beklagt habe, ohne Gitarre nicht komponieren zu können. Daraufhin lud Brandl ihn am 27. Dezember zu sich nach Hause ein. Nach einer Kegelpartie und einigen Kirsch-Rum-Cola hätten sie den Song in englischer und deutscher Sprache in einer spontanen Session in Brandls Apartment geschrieben. Er habe aber zuvor noch nie eine vertonte Version davon gehört. Passenderweise fand Iraschek daraufhin in seinem Keller noch einen alten Bandflyer, auf dessen Rückseite der deutschsprachige Text des Liedes mit einer Schreibmaschine getippt war (Foto bei Plattentests.de).

In einem weiteren Moment der Erkenntnis erinnert sich Iraschek einige Zeit später nun daran, sogar selbst im Tonstudio gewesen zu sein, um den Song mit ihm am Schlagzeug einzuspielen. Der längere, monotone Mittelteil ohne Gesang sei demnach für ein Saxophon-Solo von Heinz Hochrainer gedacht gewesen. Dazu sei es aber nicht mehr gekommen und das Projekt wurde danach nicht mehr weiter verfolgt. Iraschek gibt zu, dass seine Geschichte zur Entstehung des Songs mittlerweile ziemlich abenteuerlich klingt, doch was solle er davon haben, sich diese Geschichte auszudenken. Später meldet Iraschek den Song bei der österreichischen Verwertungsgesellschaft ARM als Werk von ihm und Brandl offiziell an.

Erst im März 2021 gelingt es Linder telefonischen Kontakt zu besagtem Heinz Hochrainer aufzunehmen. Dieser erklärt, Ende 1983 oder Anfang 1984 selbst bei der Aufnahme von Brandl und Iraschek im Studio bei Jakesch dabei gewesen zu sein. Er sollte in der Tat später ein Saxophon-Solo beisteuern, zudem wurde noch eine Überarbeitung des Keyboards oder Chöre diskutiert. Aber das Projekt wurde nach dem ersten Studiotag leider nicht mehr weiter verfolgt. Der Song sei demnach eine unfertige Zwischenversion, die jemand auf Kassette oder Tonband kopierte.

Ob die Geschichte von Iraschek, die bislang nur von der Aussage von Hochrainer und einem leicht fälschbarem Foto des deutschen Songtextes gestützt wird, der Wahrheit entspricht, möge jeder für sich entscheiden. In den Online-Communitys überwiegen jedenfalls die Zweifler, doch vielleicht wollen die letztlich auch nur den Mythos um den Song aufrecht erhalten. Iraschek hat mit der Anmeldung des Songs bei der ARM jedenfalls Fakten geschaffen, die solange Bestand haben, bis ein anderer Urheber vortritt und die Urheberschaft notfalls gerichtlich anzweifelt. Wenn die Geschichte von Iraschek stimmt, wäre es aber wiederum ein Mysterium, wie es eine Demoaufnahme eines unfertigen Songs aus Wien in eine Radiosendung des Norddeutschen Rundfunks schaffte.

The same procedure

Auch wenn an Silvester 2020 vieles anders ist – der Sketch „Dinner for One“ wird auch in diesem Jahr wieder mehrfach im Fernsehen zu sehen sein. Während der Sketch gerade deshalb so beliebt sein dürfte, weil er simpler und leicht verständlicher Slapstick ist, ist dessen Entstehungsgeschichte eine spannende und verschlungene Reise durch die Zeit und nicht mehr in allen Details rekonstruierbar.

Die Geschichte des Sketches beginnt mit dem englischen Autor Morris Laurence Samuelson, der besser unter seinem späteren Künstlernamen Lauri Wylie bekannt ist. Wylie kommt am 25. Mai 1880 in Southport zur Welt. Ab 1898 tritt er auf Londons Theaterbühnen als Schauspieler in Erscheinung. Türöffner ist sein älterer Bruder Julian Samuelson, der zu dieser Zeit in London bereits als Theaterproduzent tätig ist. Ab 1911 beginnt Wylie seine ersten kleinen Theaterstücke und Sketche zu schreiben. Später schreibt er auch an Operetten und Revuen mit.

Den Sketch „Dinner for One“ hat Wylie vermutlich irgendwann in den 1920er Jahren geschrieben. Genau lässt sich das aber nicht mehr rekonstruieren. Erstmals aufgeführt wird der Sketch als Teil seiner Revue „En Ville Ce Soir“, die vom 5. bis zum 31. März 1934 in London gezeigt wird. Schauspieler waren damals Vernon und Newell. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entdeckt der englische Komiker Frederic Bittiner Coo, ebenfalls besser bekannt unter seinem Künstlernamen Freddie Frinton, den Sketch für sich. Eigenen Aussagen zu Folge will Frinton den Sketch erstmalig bereits 1945 aufgeführt haben. Die erste dokumentierte Vorführung findet allerdings erst 1948 statt.

Anfangs zahlt Frinton für jede Aufführung entsprechende Tantiemen an Wylie, bevor er 1951 die Rechte an dem Sketch kauft. Im selben Jahr stribt Wylie verarmt in seinem Wohnwagen, der ihm zuletzt als dauerhafte Unterkunft diente. Ob Frinton die Rechte direkt von Wylie noch kurz vor dessen Tod oder auf anderem Wege unmittelbar nach seinem Tod erwarb, bleibt offen. Der Sketch, den Frinton im Laufe der Jahre mit wechselnden Partnerinnen aufführt und immer wieder ein wenig umarbeitet, trifft genau den Nerv der Zeit. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs sehnt sich die englische Bevölkerung nach leichter Unterhaltung, die sie die Sorgen und Schrecken der letzten Jahre für einen Moment vergessen lässt.

Im Jahr 1962 will dann der deutsche Entertainer Peter Frankenfeld bei einem Besuch im englischen Blackpool den Sektch bei Frinton entdeckt haben und ihm kommt der Gedanke, diesen auch dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Er lädt Frinton nach Deutschland ein, wovon dieser angeblich zunächst wenig begeistert gewesen sein soll, da er mit Deutschland immer noch vornehmlich den Gegner im zweiten Weltkrieg verband. Schließlich stimmt er zu. Am 8. März 1963 führt Frinton den Sketch in der Live-Sendung „Guten Abend, Peter Frankenfeld“ vor deutschem Studiopublikum auf. Von dieser Sendung existiert keine Aufzeichnung.

Im Jahr 2003 recherchierte der Journalist Stefan Mayr dann, dass ein gewisser Siegfried Welty eine alte Fernsehzeitschrift ausgegraben habe, die belegt, dass Frinton den Sketch „Dinner for One“ bereits am 3. Dezember 1961 in der Live-Sendung „Lassen Sie sich unterhalten“ mit Evelyn Künneke vor deutschem Publikum aufgeführt hat. Eine Aufzeichnung existiert auch davon nicht. Ob Frankenfeld nichts vom diesem Auftritt wusste oder die ganze Geschichte um Frintons Entdeckung nur legendenhafte Ausschmückung ist, bleibt ungeklärt.

Ebenfalls im März 1963 führt Frinton den Sketch im Schweizer Fernsehen auf, wovon erstmals eine MAZ erstellt wird. Diese wird kurz nach der Aufzeichnung einmalig im Fernsehen ausgestrahlt und verstaubt dann für viele Jahre im Archiv, existiert aber bis heute. Seit 1982 wird sie wieder regelmäßig ausgestrahlt.

Am 8. Juli 1963 führt Frinton den Sketch erneut in Deutschland auf, diesmal jedoch in einem Theatersaal, um den Sketch auch für das deusche Fernsehen auf eine MAZ aufzuzeichnen. Gegenüber der schweizer Version wirkt das Bühnenbild deutlich opulenter, die Kamerablickwinkel sind bedachter gewählt und vor dem eigentlichen Sketch gibt der Schauspieler Heinz Piper eine kurze, deutschsprachige Einführung in die Ausgangslage und den Inhalt des Sketches, sodass ihn alle Zuschauer trotz fehlender Englischkenntnisse nachvollziehen können. Der Sketch, der an einem Stück gefilmt wird, wird dabei mehrfach geprobt und wiederholt und schließlich die beste Version ausgewählt. Das dänische Fernsehen erhält eine andere Version aus dieser Auswahl, ohne die Einführung von Piper und ohne Publikumsgeräusche.

Der Sketch wird fortan unregelmäßig im deutschen Fernsehen in der ARD oder den dritten Programmen ausgestrahlt, wann immer eine Programmlücke zu füllen ist. Nachdem sich der Sketch wachsender Begeisterung beim deutschen Publikum erfreut, plant man 1968 den Sketch in Farbe noch einmal aufzuzeichnen, doch Frinton verstirbt noch im selben Jahr nach einer Theateraufführung an einem Herzinfarkt.

In seiner Heimat war der Sketch längst in Vergessenheit geraten. Das englische Publikum verlangt jetzt nach derbem, schwarzem Humor. In Deutschland ist der Sketch dagegen weiterhin so erfolgreich, dass der damalige NDR-Unterhaltungschef Henri Regnier 1972 beschließt den Sketch regelmäßig an Silvester auszustrahlen. Auch andere europäische Sendeanstalten beteiligen sich nach und nach an dieser Tradition. Selbst in Australien und Südafrika gibt es ab den späten 1980er Jahren regelmäßig Ausstrahlungen des Sketches.

1999 greift der NDR die Idee von 1968 wieder auf und fertigt eine Farbversion des Sketches an, indem man das Originalmaterial mit Computerunterstützung Bild für Bild nachcolorierte. Während das Ergebnis für damalige Verhältnisse technisch beeindruckend war, konnte die Farbversion das Publikum nicht begeistern, weil der ursprüngliche Charme verloren ging. Die Farbversion wird danach nur noch sporadisch im deutschen Fernsehen gezeigt.

Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt die Bekanntheit des Sketches auch in Großbritannien wieder etwas zu. An Silverster 2018 wird der Sketch schließlich auf dem Spartensender Sky Arts erstmals im britischen Fernsehen ausgestrahlt. Dabei wird die Originalversion aus Deutschland einschließlich des einleitenden Kommentars von Heinz Piper gezeigt. Das führt zu dem skurlien Umstand, dass die Einleitung, die dazu dient, dem deutschen Publikum den englischsprachigen Sketch zu erklären, wiederum mit englischen Untertitlen versehen wird, damit die britischen Zuschauer verstehen können, was in der deutschsprachigen Einleitung gesagt wird.

Kryptorätsel: Der Paul-Rubin-Fall

Gegen 9:15 Uhr am Morgen des 20. Januars 1953 fand ein US-Soldat auf dem Weg zu seinem Flug die Leiche eines jungen Mannes in einem Straßengraben nahe dem Verwaltungsgebäude am Philadelphia International Airport. Die hinzugezogene Polizei konnte bei der Leiche keinen Ausweis oder andere Objekte finden, die eine Identifikation zugelassen hätten. Sie schätzte den weißen Mann auf 22 bis 25 Jahre. Er trug normale Alltagskleidung und eine auffällige Brille mit besonders dicken Gläsern, die sorgfältig aufgesetzt war.

Er hatte eine braune Brieftasche aus Leder bei sich, in der sich zwei Fotos befanden. Eines zeigte mehrere unbekannte Menschen, die um ein Flugzeug mit Nazi-Insignien standen. Auf der Rückseite war handschriftlich „France Field, Panama“ notiert. Das zweite Foto zeigte die Statue „Der Denker“ vom Bildhauer Augste Rodin. Weiterhin fand die Polizei die Patronenhülse eines abgefeuerten 9-mm-Geschosses und etwa 1,5 m von der Leiche entfernt ein knapp 15 cm langes Plastikrohr, welches mit zwei Aluminiumkappen an beiden Enden verschlossen war und durch das ein Draht verlief.

Bei der weiteren Untersuchung der Leiche fand man keine Anzeichen für eine äußere Gewalteinwirkung. Stattdessen fand man einen gefalteten Notizzettel, der mit zwei kurzen Klebestreifen auf dem Bauch der Leiche befestigt war. Er war mit Buchstaben-, Ziffern- und Symbolkombinationen beschriftet, sodass die Polizei annahm, dass es sich um eine verschlüsselte Nachricht handelte. Bei genauerer Betrachtung konnte man im Klartext die Wörter Dulles und Conant lesen, von denen man annahm, dass damit der erst kürzlich zum Außenminister der Vereinigten Staaten ernannte John Foster Dulles und der ebenso erst kürzlich als Hoher Kommissar in West-Deutschland eingesetzte James Bryant Conant gemeint sein könnten. Man übergab den Fall daher parallel auch an das FBI, da man eine politisch motivierte Tat oder eine direkte Bedrohungslage für die genannten Personen nicht ausschließen konnte. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges nahm das FBI die Sache sehr ernst, da der Notizzettel Anschlagspläne gegen Repräsentanten der USA enthalten könnte.

Reproduktion des Notizzettels, der an der Leiche gefunden wurde – Abbildung des Originals bei Cypher Mysteries

Die noch am selben Tag durchgeführte Autopsie ergab, dass der junge Mann durch eine Vergiftung mit einer großen Menge an Kaliumcyanid starb.

Erste Hinweise

Am nächsten Tag meldete sich ein Mitarbeiter der Valley-Forge-Mautstelle (Kartenmarker, 5 km südwestlich von Norristown und 25 km nordwestlich von Philadelphia) bei der Polizei, nachdem er in der Lokalpresse von dem Leichenfund am Philadelphia International Airport gelesen hatte. Ihm sei um 6:35 Uhr am Vortag ein blaugrauer 1951er Chevrolet aufgefallen, weil der Fahrer während des Bezahlvorgangs nach dem nächstgelegenen Krankenhaus fragte, da sein Freund vergiftet worden sei. Die Person auf dem Beifahrersitz hätte sich vor Schmerzen gekrümmt und sich den Bauch festgehalten. Der Mitarbeiter der Mautstelle meinte, der Beifahrer würde auf die Beschreibung des Toten passen, war sich aber nicht ganz sicher. Er empfahl den beiden das Sacred Heart Hospital in Norristown (Kartenmarker). Eine Abfrage bei allen Krankenhäusern in der Umgebung erbrachte jedoch das Ergebnis, dass keine Person an diesem Tag mit einer entsprechenden Vergiftung eines der Krankenhäuser aufsuchte.

Ebenfalls noch am 21. Januar meldete sich eine gewisse Bessie Rubin aus Brooklyn, New York, bei der Polizei, da sie ihren Sohn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen hatte und die Beschreibung auf ihn zutreffen würde. Sie fuhr noch am selben Tag nach Philadelphia und identifizierte die Leiche als die ihres 18-jährigen Sohnes Paul Emanuel Rubin, was durch Pauls Onkel Max Gerstman nochmals bestätigt wurde.

Paul Emanuel Rubin

Paul Emanuel Rubin wurde am 18. Juli 1934 in Brooklyn, New York, geboren. Er lebte bis zu seinem Tod im Haus seiner Eltern und war Student der Chemie an der privaten New York University (NYU). Seine Leistungen waren jedoch schlecht, weshalb ihm seine Mutter nach eigener Aussage bereits angedroht hatte, ihn von der Uni zu nehmen. Nach Aussage des Dekans der NYU wäre das vermutlich seitens der Universität sowieso in Kürze passiert, da er neben seinen schlechten Leistungen auch zahlreiche Fehlzeiten angesammelt hatte. Beginnend mit dem 19. Januar hätte Paul eine Reihe von Prüfungen ablegen müssen, die offenbar seine letzte Chance zur Fortsetzung des Studiums waren. Zur Chemieprüfung am 24. Januar war er aufgrund der vielen Fehlzeiten gar nicht zugelassen worden.

Laut Aussage der Mutter verließ Paul die Wohnung nur selten. Er liebte Science-Fiction-Romane, Flugzeuge und klassische Musik. Er hatte bisher weder eine Freundin noch einen Job gehabt. Außerdem sei er Mitglied in der Brooklyn Astrophysical Society gewesen. Die Mutter konnte später eine Liste der Mitglieder einschließlich deren Adressen der Polizei übergeben. Darunter fanden sich Wissenschaftler, Redakteure und Leiter anderer Vereinigungen. Obwohl die Personen unter den angegebenen Adressen existierten, kannte keine davon Paul Rubin, noch wussten sie etwas von der besagten Vereinigung. Daraus wurde geschlossen, dass die Brooklyn Astrophysical Society nur ein Hirngespinst aus Pauls Fantasie war.

Das letzte Mal hatte die Mutter Paul am Morgen des 19. Januars gesehen, wie er sich Klebestreifen abschnitt, die zu denen passten, mit denen der Notizzettel an seinem Bauch befestigt wurde. Er hatte neben 7 $ Taschengeld noch 10 $ von seinem Vater bekommen, um sich neue Schuhe zu kaufen.

Den Eltern wurde eine Fotokopie des verschlüsselten Notizzettels vorgelegt, doch sie wussten nichts damit anzufangen, meinten aber, dass ihr Sohn noch zahlreiche solcher Notizen zu Hause liegen hätte. Sein bester Freund Benjamin Birnbaum sollte zweifelsfrei in der Lage sein, Hinweise dazu geben zu können. Auch gegenüber der Mordkommission erklärten die Eltern später, ihr Sohn habe regelmäßig solche verschlüsselten Nachrichten mit seinem Freund ausgetauscht. Bei der Befragung von Benjamin Birnbaum durch die New Yorker Polizei gab dieser an, dass Paul hin und wieder von Verschlüsselungstechniken philosophierte, aber sie hätten nie verschlüsselte Nachrichten untereinander ausgetauscht. Auch unter den persönlichen Gegenständen, die die Eltern später an die New Yorker Polizei übergaben, befanden sich keine verschlüsselten Nachrichten.

Pauls seltsame Besuche in Philadelphia

Am 29. Januar fand Pauls Mutter bei sich zu Hause eine Hotelreservierung auf einen ihr unbekannten Galen Templer (angeblich wohnhaft in New Cannan, Connecticut) für ein Zimmer im Benjamin Franklin Hotel in Philadelphia für die Nacht vom 5. auf den 6. April des letzten Jahres. Sie konnte dafür keine Erklärung liefern. Pauls bester Freund, Benjamin Birnbaum, gab an, dass Paul den Namen Galen Templer als Decknamen benutzt hätte, den er von Simon Templer, einem fiktionalen Charakter, übernommen hätte. Eine Abfrage bei dem betreffenden Hotel ergab, dass tatsächlich eine Person unter dem Namen am 5. April um 18:48 Uhr in das Zimmer 764 eingecheckt und erst am 7. April um 11:47 wieder ausgecheckt hatte. Soweit dies die Hotelleitung nachvollziehen konnte, war die Person zu jeder Zeit alleine auf dem Zimmer und hätte weder Telefonate entgegengenommen noch getätigt. Weder Galen Templer noch Paul Rubin waren zu anderen Terminen in den Gästelisten des Hotels zu finden.

Benjamin erklärte weiterhin, er sei mit Paul im Dezember 1952 in Philadelphia gewesen, um gemeinsam das Benjamin Franklin Institute, ein Wissenschaftsmuseum, zu besuchen. Danach nahmen sie ein Dinner im Old Original Bookbinders‘ Restaurant ein. Benjamin meinte, er habe den Eindruck gehabt, dass Paul den Türsteher gekannt hätte. Der Türsteher beschritt dies bei der anschließenden Befragung durch die Polizei jedoch. Aufgrund der außergewöhnlichen Brille könne er sich noch erinnern, Paul im Dezember im Restaurant begrüßt zu haben, davor oder danach hätte er ihn aber nie mehr gesehen.

Anfang Februar fand die Mutter von Paul noch eine Liste mit fünf namenlosen Adressen, die auf ein Briefpapier des Benjamin Franklin Hotels geschrieben waren. Die Polizei konnte alle Adressen Geschäften in Philadelphia zuordnen, vier Sportgeschäften und einem Waffenhändler. Der Händler eines der Sportgeschäfte konnte sich auch an einen Besuch Paul Rubins in seinem Geschäft vor etwa sechs bis acht Monaten erinnern [entspricht Juni bis Juli 1952]. Er sei in Begleitung eines kleineren Jungen gewesen und hätte versucht eine kleine Menge Schießpulver zu erwerben. Ihre Namen hätten sie zu keiner Zeit erwähnt, aber dass sie aus New Jersey wären. In allen anderen Geschäften konnte sich niemand an Paul erinnern.

Abschluss der Ermittlungen

Am 6. Februar stellte das FBI die Ermittlungen in dem Fall ein, da sich eine Gefährdung der nationalen Sicherheit nicht bestätigt hatte. Es wurden keine Beziehungen zwischen Paul Rubin und irgendwelchen feindlichen Organisationen gefunden. Das Plastikrohr entpuppte sich als eine Ionenkammer zum Nachweis von Röntgen-, Gamma- und Störstrahlung, welches aus einem frei erhältlichen Dosimeter der Victoreen Corporation ausgebaut worden war. Die Nachricht auf dem Notizzettel konnte durch das FBI nicht entschlüsselt werden.

Ein Abgleich der Schreibmaschinen von Paul Rubin und Benjamin Birnbaum mit dem Notizzettel konnte die Schreibmaschine von Benjamin eindeutig ausschließen. Pauls Schreibmaschine passte grundsätzlich zum Notizzettel, wies jedoch zu wenige einzigartige Charakteristika auf, um sie eindeutig zuordnen zu können.

Die Polizei schloss kurz danach ebenfalls ihre Ermittlungen ab, da es keine Hinweise auf eine Fremdeinwirkung gab und niemand ein Motiv hatte, Paul zu töten. Man vermutete daher im Umkehrschluss, dass Paul Suizid begangen hatte. Er befand sich demnach in einer schwierigen Lebenslage, fühlte sich von seinem Umfeld missverstanden und hatte als Chemie-Student Zugang zu der für seinen Tod verantwortlichen Chemikalie. Einen Beleg für diese oder jede andere These gibt es allerdings bis heute nicht und viele Umstände seines Todes blieben weiterhin ungeklärt.

Die Entschlüsselung des Notizzettels

Neben dem FBI konnte auch niemand anderes bisher eine plausible Lösung für den Inhalt des Notizzettels präsentieren. Zusätzlich zu den bereits erwähnten potenziellen Namen „Dulles“ und „Conant“, enthält auch die vorvorletzte Zeile hinter den offenbar im Klartext ausgeschriebenen Worten „Want: datum“ die Auflistung von drei weiteren potenziellen Namen. „Tywood“ könnte dabei auf einen fiktionalen Charakter in der von Isaac Asimov im Jahr 1949 veröffentlichen Science-Fiction-Kurzgeschichte „The Red Queen’s Race“ verweisen. Auf der Cypher-Mysteries-Website gab der Kommentierende Thomas zudem den Hinweis, dass mit „Janossey“ der ungarische Physiker Lajos Jánossy und mit „Ketelle“ der am Manhattan-Projekt mitwirkende B. H. Ketelle gemeint sein könnten.

Nick Pelling, Betreiber der Cypher-Mysterys-Website, liefert zumindest für die letzte Zeile eine plausible Erklärung. Während „PER“ schlicht die Initialen von Paul Emanuel Rubin darstellen könnten, fand er den Ausdruck „aliacaui“ in der Science-Fiction-Novelle „The Helping Hand“ von Poul Anderson aus dem Jahre 1950. Das erzählerische Ich erklärt darin, dass es sich um einen Ausdruck der Cundaloanier handeln würde, der keine direkte Entsprechung in der irdischen Sprache hätte. Es sei eine Art Ruhezustand – nicht zu verwechseln mit Schlaf –, in dem man seinen Gedanken freien Lauf lässt, mit dem Ziel einer psychischen Erholung. Dies passt nicht nur zeitlich, sondern deckt sich einerseits mit Pauls Begeisterung für Science-Fiction-Romane, andererseits würde es die Suizidthese stützen, insofern der Notizzettel eine Art Abschiedsbrief und die letzte Zeile eine Abschiedsfloskel bzw. Signatur darstellen könnte.

Was den Rest des Notizzettels angeht, so vermutet Nick Pelling, dass Paul ein Codebuch verwendet und ggf. jede Zeile mit einem anderen Verfahren bzw. Schlüssel verschlüsselt haben könnte, was eine Entschlüsselung aufgrund des jeweils kleinen Zeichenumfangs selbst bei eher einfachen Verfahren nahezu unmöglich machen dürfte. Damit bliebe aber die Frage offen, an wen sich der mögliche Abschiedsbrief richten sollte, wenn niemand in der Lage ist, ihn zu entschlüsseln. Von verschiedenen Seiten wurde daher der Verdacht geäußert, ob entweder Pauls Eltern oder Benjamin Birnbaum im Besitz des betreffenden Codebuchs waren, aber diesbezüglich die Polizei belogen haben, damit die Inhalte des Notizzettels nicht an die Öffentlichkeit gelangen.

Quellen